Die Kirche ist eine Gemeinschaft der Fremden

Festbeitrag zu Pfingsten

Die Kirche ist eine Gemeinschaft der Fremden

Als der Heilige Geist an Pfingsten die Apostelinnen und Apostel erfüllt, predigen sie so, dass alle Zuhörerinnen und Zuhörer in den Worten ihre je eigene Sprache erkennen.

Untereinander verstehen sich die Zeuginnen und Zeugen des Pfingstwunders nicht, aber alle verstehen sie die Rede «von den grossen Taten Gottes» (Apostelgeschichte 2,11), das Evangelium.

Ein Merkmal biblischer Texte ist, dass sie immer in einer bestimmten Situation rezipiert werden und in einem spezifischen Resonanzraum ihre Wirkung entfalten, auf persönliche Erlebnisse und Stimmungen, soziale Bedingungen treffen. Wie an Pfingsten versteht jede Person die Verse zuerst in ihrer individuellen Sprache. Das ist zuweilen schwer auszuhalten. Deshalb braucht es das Gespräch, manchmal den theologischen Streit, immer das Ringen um eine über das individuelle Empfinden hinausgehende Auslegung, die den leuchtenden Kern der Botschaft des Evangeliums freilegt, die dem Leben und dem Frieden dienen will. Hören einzelne Gruppen das Evangelium ausschliesslich in der eigenen Sprache und werden taub für andere Interpretationen und historische Zusammenhänge, können Kirchen auseinanderbrechen. Verhärtet der Glaube, wird er zur Ideologie.

Die Pfingstgemeinde spaltet sich nicht. Sie bleibt beseelt und wächst. Vielleicht auch deshalb, weil sie beim Hören nicht stehen bleibt. Die ersten Christinnen und Christen halten nicht nur an der Lehre der Apostelinnen und Apostel fest, sondern auch «an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und am Gebet» (Apostelgeschichte 2,42). Der anglikanische Theologe Rowan Williams schreibt über das Abendmahl, dass Jesus mit seiner eigenen Gastfreundschaft die Menschen zur Gastfreundschaft ermuntern wolle. Die zentrale Verwandlung, die sich bei der Eucharistie vollziehe, sei deshalb jene, «dass sie dich zwingt, die Person neben dir als von Gott gewollt zu sehen». Kirche ist somit nur als eine Gemeinschaft unter Fremden denkbar. Fremde, die durch ihre Bedürftigkeit und ihre Leiblichkeit verbunden sind. Sie hungern alle nach Nahrung und wollen gesehen werden. Die Tischgemeinschaft steht für die Gemeinschaft der Bedürftigen, sie ist die Wurzel der Diakonie.

Manchmal erhält ein biblischer Vers, der lange Jahre im Lebensrucksack mitgetragen wurde und stumm blieb, in einer existenziellen Not plötzlich seinen Sinn. Er berührt, stärkt, tröstet. Dann ist Pfingsten. Alle Interpretationen, die auf unterschiedlichen theologischen Richtungen und kirchlichen Traditionen, konfessionellen Prägungen und biografischen Erfahrungen gründen, bereichern sich, solange in ihnen die befreiende Geistkraft von Pfingsten spürbar bleibt. Das Abendmahl und das gemeinsam gebetete Unservater, das über geografische, konfessionelle und zeitliche Grenzen hinweg verbindet, bilden den Boden, auf dem Gemeinschaft erfahren werden und Vielfalt gedeihen kann.

Text: Felix Reich, Redaktionsleiter reformiert. Zürich