Süsse Flüchtigkeit

Narrenschiff

Süsse Flüchtigkeit

Wer weiss noch, wie analoges Fernsehen ohne Aufnahmegerät ging?

Als wir am Freitag nach Schulschluss heimwärts rannten, weil um 16.05 Uhr eine neue Folge von «Unsere kleine Farm» gezeigt wurde. Als wir um 19.00 Uhr niemanden anrufen durften, weil dann die Tagesschau lief. Als man raus war, wenn man den «Tatort» verpasst hatte.

Ich befinde mich momentan dank Pluto.tv auf einer Zeitreise. Zu verdanken habe ich diese dem Erzfeind des analogen Fernsehens: dem Streaming. Weil der Film- und Serienproduzent Paramount auch hier zu den Grossen gehören möchte, lockt er uns mit einem Angebot, das wie ein Wurmloch--Wunderland funktioniert: Für jede Serie ist ein eigener Kanal reserviert. Damit kurvt also auf dem einen Kanal Manfred Krug in einer Endlosschlaufe rund um die Uhr mit seinem LKW durch die Gegend. Auf einem anderen fliegen Raumschiffe in Warp-Geschwindigkeit durch den Deep Space. Und durch ein weiteres Loch kriecht man in den Bau der Upperclass am Eaton Place. Auf Pause klicken? Geht nicht! – Zeitversetzt schauen? Unmöglich! – Aufnehmen? Fehlanzeige!

Während ich so durch die Wurmlöcher von Kanal zu Kanal hüpfe, vornehmlich um der lästigen Eigenwerbung von Paramount zu entfliehen, entwickle ich eine ganz neue Fernseh-Technik, wie ich sie mit dem Gumpiseil vorgelernt habe: Ich versuche den richtigen Moment zum Reinspringen zu erwischen. Wenn ich beispielsweise eine Folge verpasst habe, versuche ich abzuschätzen, wann ich wieder reinspringen muss, damit ich an der richtigen Stelle im Strom auftauche, um Verpasstes nachzuholen. – Ebenso reizvoll wie knifflig: Vom einen Kanal in den anderen zu springen und dabei eine Darstellerin oder einen Darsteller mitnehmen – eben noch Butler, jetzt plötzlich Gangster.

Dabei wird mir zuweilen ganz metaphysisch. «Sein statt haben» schiesst mir durch den Kopf, während ich mich darüber ärgere, dass ich den richtigen Moment schon wieder verpasst habe. Mir bleibt nichts anderes übrig, als jene Augenblicke zu geniessen, die mir mit der «Familienbande» gerade vergönnt sind. Und ich muss gelassen hinnehmen, dass rechts und links die Ströme ungesehen an mir vorbeiziehen.

Und so wird ein billiger Werbetrick für mich zum Gleichnis: Im Leben gibt es keine Pausentaste. Kein Repeatknopf. Kein Aufnahmegerät. Durch welche Wurmlöcher ich immer gespült werde: dort wo ich lande, lebt das Leben, lebt mein Leben. Ich muss es nehmen, wie und wann es kommt.

Vielen Dank, Pluto.tv für diese Lektion, auf die ich zugegebenermassen auch ohne Tablet und erhöhten Stromverbrauch hätte kommen können.

Text: Thomas Binotto