Bewegung! – Wohin?

Katholische Kirche Deutschland

Bewegung! – Wohin?

In einem Brief an Papst Franziskus hatte Kardinal Reinhard Marx am 21. Mai seinen Rücktritt angeboten. Mit einer Begründung, die für weltweites Aufsehen gesorgt hat.

Einer der einflussreichsten Männer der katholischen Kirche will auf sein Amt verzichten: «Im Kern geht es für mich darum, Mitverantwortung zu tragen für die Katastrophe des sexuellen Missbrauchs durch Amtsträger der Kirche 
in den vergangenen Jahrzehnten.» 

Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München-Freising, spricht in seinem Brief an den Papst von persönlichem Versagen, von administrativen Fehlern und von «systemischem» Versagen.

Dass ein hochrangiger Kirchenvertreter mit dieser Begründung seinen Rücktritt einreicht und dieses Gesuch – mit Genehmigung des Papstes – auch noch publik macht, das ist in der langen Kirchengeschichte eine Rarität, wenn nicht sogar einzigartig.

Marx betont mehrfach, dass er mit seinem Rücktritt nicht nur persönlich, sondern auch als Vertreter der Kirchenleitung Verantwortung übernehmen will. Nicht nur Einzelpersonen, auch die katholische Kirche als Institution habe versagt. In dieser Überzeugung sieht sich Marx offenbar in der Minderheit: «Die Diskussionen der letzten Zeit haben gezeigt, dass manche in der Kirche gerade dieses Element der Mitverantwortung und damit auch Mitschuld der Institution nicht wahrhaben wollen und deshalb jedem Reform- und Erneuerungsdialog im Zusammenhang mit der Missbrauchskrise ablehnend gegenüberstehen.»

Mit «manchen» sind offenkundig vor allem Bischöfe, insbesondere Kardinal Rainer Maria Woelki, Erzbischof von Köln, gemeint. Im Gegensatz zu Woelki, der sowohl persönliches wie institutionelles Versagen weit von sich weist, setzt Kardinal Marx den Hebel bei sich selbst an: «Ich empfinde jedenfalls meine persönliche Schuld und Mitverantwortung auch durch Schweigen, Versäumnisse und zu starke Konzentration auf das Ansehen der Institution.»

Nur wenige Tage, nachdem der Kardinal sein Rücktrittsgesuch öffentlich gemacht hatte, traf die Antwort des Papstes ein. Er teilt die Analyse von Marx: «Das Schweigen, die Unterlassungen, das übertriebene Gewicht, das dem Ansehen der Institutionen eingeräumt wurde – all das führt nur zum persönlichen und geschichtlichen Fiasko.»

Dennoch weist er das Rücktrittsgesuch des Kardinals zurück. Und fordert ihn auf, in seinem Amt nun erst recht den eingeschlagenen Weg weiterzugehen. Diesen Entscheid hat Marx akzeptiert, betont jedoch: «Es bleibt bei dem, dass ich persönlich Verantwortung tragen muss und auch eine ‹institutionelle Verantwortung› habe, gerade angesichts der Betroffenen, deren Perspektive noch stärker einbezogen werden muss.» Marx ist deshalb nicht bereit, zur Tagesordnung überzugehen. Dies «kann nicht der Weg für mich und auch nicht für das Erzbistum sein».

Wer die Entwicklung von Kardinal Reinhard Marx in den letzten Jahren mitverfolgt hat, der wird ihm ehrliche Absicht attestieren. Es geht offensichtlich nicht um taktisches Geplänkel, sondern um einen Bischof, der tatsächlich die viel beschworene Freiheit von Amt und Würden gefunden hat. Marx stellt unmissverständlich klar, dass die Menschen und das Evangelium über dem Amt und der Institution stehen. Deshalb ist er unter den Bischöfen weltweit zu einem Anführer für Aufklärung und Erneuerung geworden. Ob die jüngste Entwicklung den von ihm vorangetriebenen «synodalen Weg» und die erhoffte Erneuerung eher stärkt oder schwächt, wird sich allerdings erst noch zeigen müssen. 

In welche Richtung auch immer die Wellen schlagen werden – die Auswirkungen werden weit über München und Deutschland hinausreichen. Kardinal Reinhard Marx hat das Zeug, zu einer zentralen Kraft im Reformprozess zu werden. Wir werden sehen, ob er diese Erwartung auch erfüllen kann. Und ob die Kirche dies zulässt.

Text: Thomas Binotto