Stadtkloster: Kein Ort der Stille

Porträt

Stadtkloster: Kein Ort der Stille

In einem reformierten Pfarrhaus werden regelmässig Tagzeitengebete gesungen – wie in einem Kloster. Ansonsten aber geht das Stadtkloster Zürich ganz neue Wege urbaner Spiritualität.

Vom lebhaften Wiediker Industriequartier Binz führt die Wiedingstrasse hinauf in ein ruhiges Wohnquartier mit grossen, alten Bäumen und Weitblick über die ganze Stadt. Schon der Weg zum Stadtkloster Zürich lässt innere Ruhe und Weite aufkommen. «Wir sind aber alles andere als ein Ort der Stille», meint Janique Behman über ihr Zusammenleben in der Stadtkloster-Wohngemeinschaft. «Wir reden und diskutieren viel», sagt Elmar Erger, der gerade gestern als festes Mitglied in die WG aufgenommen wurde. «Denn wir sind äusserst unterschiedlich», ergänzt Silvia Berchtold, mit 33 Jahren die jüngste Mitbewohnerin.  

Still wird es dann aber doch, als um 19 Uhr in einem grosszügigen Erker des Wohnzimmers die Vesper beginnt. Die Tagzeitengebete sind das Herz des Stadtklosters, das, was das ehemalige Pfarrhaus neben der reformierten Kirche Bühl zu einem Kloster macht. Im Halbrund um eine Kerze und eine Ikone sitzen nicht nur die aktuell fünf WG-Mitglieder, sondern auch Menschen aus dem grösseren Kreis der Aktivmitglieder des Vereins Stadtkloster. Im Wechsel singen Vorsängerin und Mitbetende Antiphon, Hymnus und Psalmen, angelehnt an die benediktinischen Stundengebete. Die freien Fürbittgebete erinnern eher wieder ans reformierte Umfeld, in dem die Stadtkloster-Idee geboren ist. Das gesungene Vaterunser und der vierstimmige Segensgesang schliessen die halbstündige Gebetszeit ab, die an einigen Tagen der Woche auch im nahegelegenen Bethaus stattfindet, wo eher auch Passantinnen und Passanten den Weg dazu finden. 

Schöpfungsfreundliche Spiritualität

Beat und Heidi Schwab, seit Beginn Aktivmitglieder des Vereins Stadtkloster, setzen sich nach dem Gebet an den grossen Wohnzimmertisch, wo sie die druckfrischen Unterschriftenbögen der Landeskirchlichen Volksinitiative «für eine klimaverantwortliche Kirche (Schöpfungsinitiative)» zum Versand vorbereiten. Die Schöpfungsinitiative ist im Stadtkloster entstanden, wurde von deren Arbeitsgruppe «Schöpfung» ausformuliert und will die reformierten Kirchgemeinden im Kanton Zürich verpflichten, die eigenen Treibhausgasemissionen bis 2035 auf Netto-Null zu senken.

Die aktuelle Stadtkloster-WG
Die aktuelle Stadtkloster-WG

Silvia Berchtold, Elmar Erger, Karin Reinmüller, Werner Stahel, Janique Behman (v.l.n.r.).
Foto: Stadtkloster / Alona Baliuk

Zum Stadtkloster gehört auch eine gemeinsam gelebte Schöpfungsspiritualität. In der WG wird vegan gekocht. «Wer aber ab- und zu ein Stück Käse oder Fleisch braucht, kann das selber in Freiheit entscheiden und sich zum Essen dazu nehmen», erklärt Janique Behman (44), die von den dreien am längsten im Stadtkloster lebt und als Fundraiserin arbeitet. An Klima-Demos haben die ganze Kloster-WG und viele Aktivmitglieder des Vereins schon teilgenommen. «Gewaltfreiheit und Mut zum klug gewählten politischen Konflikt sind Tugenden der Jesus-Nachfolge», steht auf einem Manifest, das an der Küchentür hängt. 

Beim anschliessenden Nachtessen wird gescherzt und diskutiert. Was motiviert, Mitglied in dieser modernen Kloster-WG zu werden? Elmar Erger (48) ist neu nach Zürich gezogen, wollte hier aber nicht allein leben. Zufällig sah er auf Google Maps, dass es in der Nähe ein Stadtkloster gibt. «Von Berlin her kannte ich das Konzept Stadtkloster, es war mir vertraut und sympathisch.» Spontan meldete er sich zu einem Gespräch an. Dann durchlief er das übliche Aufnahmeverfahren: «Zuerst kommt man 10 Tage zum Probewohnen, um allfällig idealisierende Vorstellungen mit der Realität zu vergleichen. Wenn das für beide Seiten positiv verläuft, kommt man nach einer Pause für die zweimonatige Probezeit wieder», erklärt Manager Elmar, der aktuell als Barista arbeitet. Nach Abschluss dieser Probezeit entscheidet der Vereinsvorstand aufgrund einer Empfehlung der Stadtkloster-WG-Mitglieder über die Aufnahme des Kandidaten. 

Wechselnde Besetzungen

«Nun ist die Idee, dass ich eine Weile bleibe», sagt Manager Elmar Erger. «Wir verpflichten uns jeweils für ein Jahr. Danach können wir wieder neu entscheiden. Wenn sich unsere Lebenssituation ändert, sind wir frei, wieder zu gehen.» Wechselnde Besetzungen gehören zum Konzept der Stadtkloster-WG, die seit 2016 zuerst im Pfarrhaus der Bullingerkirche und seit rund einem Jahr im Pfarrhaus der Kirche Bühl im Kreis 3 lebt. 

Karin Reinmüller mag die menschlichen Herausforderungen.

Elmar Erger schätzt es, dass die Gemeinschaft auch für andere da ist.

Janique Behman sieht im Stadtkloster ein Experimentierfeld.

Musikerin Silvia Berchtold sagt: «Das grosse Zimmer und die Freiheit, jederzeit üben zu können, ist natürlich super.» Ihre Hauptmotivation ist aber eine andere: «Es ist echt schwierig, in einem nicht-religiösen Umfeld irgendeine Art von Spiritualität beizubehalten.» Sie suchte daher ein Kollektiv, das eine gemeinsame Form von Spiritualität lebt. «Das hilft», sagt sie. Fünfmal pro Woche wird gemeinsam gebetet: entweder um 7 Uhr früh zur Laudes oder um 19 Uhr zur Vesper. Jeden Dienstagabend verbringen die WG-Mitglieder gemeinsam: abwechslungsweise für administrative Absprachen oder eine spirituelle Weiterbildung. Im Übrigen gehen alle ihrem Beruf und ihren sozialen Engagements nach, die einen in der Winterstube des Vereins Stadtkloster, wo Obdachlose unterstützt werden, andere im Verein Incontro von Schwester Ariane. 

Menschen in Not aufnehmen

«Belastungsproben in der WG gab es vor allem im Zusammenhang mit der Aufnahme von Gästen», sagt Janique Behman. «Da mussten wir uns fragen: haben wir die Möglichkeit, noch jemanden aufzunehmen? Fühlen wir uns dann noch zuhause?» Denn zum Stadtkloster-Konzept gehört, dass auch Menschen in Not Aufnahme finden.  Aktuell leben zwei Personen hier, die noch im Asylverfahren sind. Kürzlich ist eine junge Frau aus Afghanistan dazugestos-sen. Zwei WG-Mitglieder, der pensionierte Werner Stahel und die katholische Theologin Karin Reinmüller, begleiten diese Gäste beim Formulieren von Gesuchen, Behördengängen und in anderen praktischen Fragen. «Im Moment stimmt die Zusammensetzung gut für uns», meint Janique Behman. «Ein Zimmer ist noch frei. Die Stadtkloster-WG ist für sechs Personen konzipiert. Wir sind gespannt, wer im Laufe des Jahres noch dazustossen wird.»

Text: Beatrix Ledergerber