Was bedeutet mir Jesus?

Essay

Was bedeutet mir Jesus?

Der Theologe und Bibelwissenschaftler Daniel Kosch, langjähriger Generalsekretär der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz RKZ, geht einer fundamentalen Frage nach, die wir nur selten stellen und ebenso selten beantworten.

Vor etwa anderthalb Jahren starb meine Mutter im Alter von 91 Jahren. Sie litt an Demenz, konnte sich in der letzten Phase ihres Lebens kaum mehr verständlich ausdrücken. Bei einem der letzten Besuche – sie war schon nicht mehr richtig ansprechbar – hörte ich, wie sie in ihrer französischen Muttersprache wiederholte: «Ne m’abandonne pas – Verlass mich nicht.» War es eine Bitte an uns Menschen? War es eine Bitte an Gott? Jedenfalls hörte ich es als Echo auf die Klage des Gekreuzigten: «Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?»


Der Alltags-Jesus

Meine reformierte Mutter und mein katholischer Vater waren gläubige und zugleich kritische, zweifelnde und ganz normal im Leben stehende Menschen. Dank ihnen gehörte Jesus von Kindheit an zu meinem Alltag.

Mit freikirchlichen und anderen frommen Einladungen, Jesus «mein Herz zu öffnen», mich zu ihm «zu bekehren», habe ich nie viel anfangen können. Denn Jesus war schon da. Seine Gleichnisse, seine Geburt, seine Wunder, seine radikale Forderung, alles zu verlassen, Maria von Magdala, die ihm die Füsse salbte, Petrus, der ihn verleugnete, und Thomas, der einen Finger in seine Wunde legen wollte, das alles war Teil meiner Welt.

Selbstverständlich verknüpfte ich die Liedstrophe «Still, still, still, weil’s Kindlein schlafen will» mit der Weihnachtskrippe und stellte nicht infrage, dass seitdem gilt: «Christ, der Retter ist da». Und so traurig und bedrückend der gottverlassene Schrei Jesu am Kreuz war, so selbstverständlich war, dass in der Osternacht das «Lumen Christi» den Sieg des Lebens über den Tod ankündigen würde. Jesus samt der Geschichten und Gestalten, Lieder und Gebete um ihn herum gehören seit jeher zum «Inventar» meines Lebens.


Der glücklichste Mensch

Schon während meiner Jugend gab es aber mehr als diesen Alltags-Jesus. Mein Jesusbild erweiterte sich um viele Fragen, Überlegungen, Zweifel und Erkenntnisse. So lasen meine Eltern in den 1970er-Jahren die damals junge und heftig umstrittene Theologin Dorothee Sölle. Sie fragte, ob es ein «atheistisches Christentum» gebe. Und sie stellte der traditionellen Rede von Jesus, der selbstlos lebte und gehorsam den Kreuzestod starb, das Bild von Jesus als einem freien, rebellischen Menschen gegenüber, ergänzte seinen Gehorsam um seine Phantasie.

Sölle schrieb: «Jesus war ein Mensch, der es wagte, ‹ich› zu sagen ohne Rückendeckung.» Und fügte an: «Ich halte Jesus von Nazareth für den glücklichsten Menschen, der je gelebt hat.» Er war ein Mensch, «der seine Umgebung mit Glück ansteckte, der seine Kraft weitergab, der verschenkte, was er hatte». «Er erfüllte nicht Pflichten, sondern er veränderte die Situationen derer, mit denen er zusammenkam.»

Jesu Wunder und Gleichnisse wurden bei Sölle zu Ausdrucksformen seines Glücks und seiner Kreativität. Hinzu kamen alternative Übersetzungen von Jesusworten. Statt dem kirchenfromm klingenden «Selig die Armen!» hiess es «Gott liebt den aufrechten Gang!» Auch die Armen, die Hungernden und die Weinenden können «aufrecht gehen», wo mit Jesus Gottes neue Welt in den Alltag einbricht. Noch heute spüre ich den Atem der Freiheit, die Kraft und Ermutigung, die seit meiner Jugend von einem solchen Jesus-Bild ausgehen.


Der historische Jesus

Mit dem Theologiestudium kam zu den Erfahrungen mit dem alltäglichen Jesus und zum «Menschen, der in kein Schema passt», die wissenschaftliche Beschäftigung mit Jesus hinzu. Die Fragen, was Jesus wirklich sagte und was er genau damit meinte, interessierten mich. Ich lernte, dass Jesus davon überzeugt war, dass mit seiner Verkündigung und in seinem Handeln «Gottes Reich mitten unter uns ist».

Menschen, die sich auf sein Evangelium einliessen, machten die Erfahrung, dass Gottes befreiende, heilsame und frohmachende Gegenwart bereits hier und heute erfahrbar ist: im Senfkorn, in der Perle und im Schatz im Acker, in der gelähmten Frau, die wieder aufrecht gehen kann, oder im gemeinsamen Essen mit Ausgegrenzten.


Der bleibend Gegenwärtige

Erst Jahre später wurde mir bewusst, dass das geschichtliche Wissen nur ein Anfang ist. Erst, wenn wir erfassen, dass diese Gegenwart Gottes nicht auf die Zeit Jesu beschränkt war, sondern auch hier und heute angesagt und erfahrbar wird, erreicht seine Botschaft das Jetzt. Dann wird Wirklichkeit, was die Freundinnen und Freunde Jesu beim Teilen von Brot und Wein erfuhren: Ihnen «brannte das Herz», denn Jesus war abwesend-anwesend.

So eröffnete mir die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bibel und die Frage nach dem historischen Jesus einen Zugang zum Glauben an seine bleibende Gegenwart. Er ist «immer und überall da», wo Menschen auf die Samenkörner des Reiches Gottes aufmerksam werden, wo sie aufatmen können, wo der Funke der Hoffnung überspringt und der glimmende Docht nicht ausgelöscht wird.


Der jüdische Jesus

Darüber hinaus korrigierte der historisch informierte Blick auf Jesus Fehleinschätzungen und machte auf blinde Flecken in den gängigen Jesusbildern aufmerksam, zum Beispiel auf seine jüdische Identität. Lange meinte man, das Jesusbild werde umso strahlender, je dunkler man seinen jüdischen Hintergrund darstellte: Dem zärtlichen Gott Jesu stellte man den zornigen des Alten Testaments gegenüber, dem Gott des Gesetzes den jesuanischen Gott der Freiheit und der Liebe.

Aufgrund neuer Forschungen lernte ich: Der Gott und Vater Jesu ist kein anderer als der Gott des Volkes Israel. Alles, was Jesus über Gottes Barmherzigkeit und Menschenliebe sagt, verdankt er seiner Verwurzelung im Judentum. Das Christentum hat mit seiner Judenfeindschaft nicht nur Jesus verraten, sondern auch Spuren gelegt, die bis nach Auschwitz führen. Das zu korrigieren, hat Auswirkungen bis hinein in Predigten und Redewendungen wie die vom «alttestamentarischen Gottesbild».


Kein einsamer Held

Eine andere, ebenfalls wichtige Perspektive eröffneten mir Theologinnen, die sich der Gestalt Jesu und seiner Welt mit feministischem Blick nähern. Sie machen darauf aufmerksam, dass Jesus in den Evangelien nicht als «einsamer Held» erscheint, sondern «Macht-in-Beziehung» lebte. Dass er sich nichtjüdischen Menschen öffnete, verdankt er dem Dialog mit einer Frau.

Ein Jesus, den der Evangelist Johannes sagen lässt «Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben», taugt nicht als Vorbild allein entscheidender männlicher Kirchenoberhäupter. Das Wort vom Weinstock gibt zu verstehen, dass jene, die Jesus vertrauen, eine inklusive Gemeinschaft bilden, in der alle mit allen verbunden sind und in der «verdorrt und abgehauen wird», wer nicht geschwisterlich verbunden lebt.


Der an die Tür klopft – von innen

Nachdem in der «ersten Halbzeit» meiner Berufstätigkeit der biblische Jesus im Zentrum meiner Aufmerksamkeit stand, verbrachte ich die «zweite Halbzeit» mitten in kirchlichen Strukturen und Gremien. Es ging oft um Geld, um Organisatorisches – und damit auch um Macht.

Immer wieder vermisste ich dabei die Orientierung an Jesus und seinem Evangelium, sei es bei Bischöfen und pastoral Verantwortlichen, sei es bei Laien, die sich gern auf die «Gleichwürdigkeit» aller Getauften berufen, ohne dass davon allzu viel spürbar würde. Auch mich schützte der «biblische Impfstoff» aus der ersten Halbzeit längst nicht immer gegen die «Viren» der Fixierung auf eigene Interessen, vor Machtspielen im klerikalen Umfeld, vor der Logik des Geldes, welche leicht die Logik des Teilens, der Gerechtigkeit und des Evangeliums verdrängen kann. 

Papst Franziskus verwendet für diesen Zustand der Kirche das biblische Bild von Jesus, der an die Tür klopft, und bemerkt dazu: Jesus klopft von innen. Er möchte hinaus aus der Enge, in die ihn die Kirche gesperrt hat. 

Gleichzeitig habe ich als kirchlicher Verwaltungsmensch den alltäglichen, einfachen und konkreten Jesus wiederentdeckt.

Den weisen Rabbi, der sagt: «Sorge dich nicht um morgen, jeder Tag hat genug eigene Plage.»

Den unbequemen Prediger, der mahnt: «7-mal vergeben reicht nicht, 77-mal sollst du vergeben.»

Den müden Heiler, der sich zur Erholung mit seinen Freundinnen und Freunden an einen ruhigen Ort zurückzieht.

Den Jesus, der im Sturm selbst dann noch etwas Vertrauen mobilisiert, wenn er im Heck des Kirchenschiffleins zu schlafen scheint.

Und nicht zu vergessen: Der uns lehrt, darum zu beten, dass Gottes Reich komme, sein Wille geschehe, Brot für alle da sei und dass das Böse in der Welt und in unseren Herzen nicht überhandnehme.


Jesus im Leben und im Sterben

Nun, da die beiden «beruflichen Halbzeiten» hinter mir liegen sind, beschäftigen mich die Fragen der nachberuflichen und dann einmal der letzten Phase meiner Lebenszeit. Was sie bringen werden, ist ungewiss. Aber irgendwann wird es darum gehen, loszulassen und zugleich das Vertrauen und die Liebe zum Leben zu bewahren. Schmerzhafte Abschiede bleiben dabei niemandem erspart.

Ich beginne, etwas besser zu verstehen, warum im gesamten Neuen Testament das Kreuz und die Auferweckung Jesu eine so wichtige Rolle spielen. Und im Blick auf die Weltlage wird mir zudem bewusst: Wie für Jesus kommen Kreuz und Tod für unzählige Menschen nicht erst im Alter, sondern schon mitten im Leben in den Blick.

Um so wichtiger ist die Erinnerung daran, dass Jesus in aller Gottverlassenheit mit seinem Vater im Himmel in Verbindung blieb und dass Gott ihn nicht fallen gelassen, sondern aufgenommen hat in sein Reich.

Corpus Christi – Die Evangelien im Licht der Wissenschaft (arte doku)

Das Bild von Jesus am Kreuz ist eines der bekanntesten Symbole unserer Welt. Aber was wissen wir wirklich über die Hinrichtung Jesu Christi? Ein Team von Wissenschaftlern versucht, die Kreuzigung zu rekonstruieren, Widersprüche auszuräumen und der Wahrheit hinter den Schilderungen der Evangelien auf die Spur zu kommen. Ein neuer Blick auf eine Geschichte, die für beinahe 2000 Jahre als festgeschrieben galt. 

Regie: Gérard Mordillat, Jérôme Prieur / Frankreich / 1997

Text: Daniel Kosch