Wenn Kräfte schwinden

Leben in Beziehung

Wenn Kräfte schwinden

Im Fragenkatalog der Redaktion an mich steht auch: «Wie begegnet man im Alt-werden dem Nachlassen der Kräfte?» 

Ich könnte darauf leichthin mit dem etwas frivolen Abendgebet eines alten Mannes antworten: «Im Kopf noch zwäg und unten dicht – lieber Gott, mehr brauch ich nicht.» Aber damit wird sich die Redaktion wohl nicht zufrieden geben. Deshalb nochmals mit mehr Ernst …

Das «Nachlassen der Kräfte» hat mir als glühendem Hobbysportler schon seit früher Jugend gedroht, wie ein drohendes Gespenst am Horizont des Lebens. Die Grenze lag zunächst bei 20. Dann verschob sie sich auf 30, bald auf 40. Und zu meinem Erstaunen verschob sich der Horizont immer weiter und das Gespenst des Alterns zeigte sich nicht. Selbst mit 70 und nach der Montage verschiedener Ersatzteile in Hüften und Schultern frönte ich munter und zufrieden meinen Sportarten, wenn auch jetzt gemütlicher und ohne den Ehrgeiz, immer noch besser zu werden. Aber der Tag, an dem mir das Gespenst ins Gesicht sagen wird, dass dies und jenes nun schlicht nicht mehr geht, dieser Tag rückte näher und näher.

Wenige Jahre nach meinem 80. Geburtstag bin ich am Horizont angekommen. Aber kein Gespenst lauerte mir auf. Mir wurde einfach plötzlich klar, dass ich so unendlich schöne Berg- und Pistenerlebnisse auf Skiern erleben durfte, dass die Zeit jetzt einfach reif war, die Skiausrüstung zu verschenken, ebenso Steigeisen, Pickel und den dicken Daunenschlafsack für Hochgebirgsexpeditionen. Später fand ich Abnehmer für die Skating-Skis. Und als nicht nur die Kondition, sondern auch das Gleichgewichtsgefühl abnahm, fanden auch die Langlaufskis für die klassische Technik dankbare neue Benützer. 

Heute bin ich zum fleissigen Berg- und Flachlandwanderer mutiert. Die Frage stellt sich jetzt: Was, wenn ich jenen Horizont erreiche, wo ich auch aufs Wandern verzichten werden muss? Vor einigen Jahren wünschte mir ein lieber Freund und Jahrgänger in seinem Neujahrsbrief nicht das, was alle mit mehr oder weniger blumigen Worten wünschen: Gesundheit, Zufriedenheit, Glück! Nein, mein Freund schrieb kurz und nüchtern: «Ich wünsche Dir gute Altersakzeptanz.» 

Zunächst verschlug es mir die Sprache, dann liess ich das Wort langsam in mich hineinsickern. Anschliessend steigerte ich die «gute Altersakzeptanz» zur «frohen Altersakzeptanz». Und seither ist dies meine Grussformel, die ich allen Einladungen zu Pensioniertentreffen, Klassentreffen, Treffen mit meinen Militär-Kameraden anfüge. Und ich stelle sie nun auch dem Gebet des alten Mannes voran: «Ich wünsche mir täglich frohe Altersakzeptanz und im Kopf noch zwäg und unten dicht. Lieber Gott, mehr brauch ich nicht.»

Text: Hans Jörg Schibli