«Realphilosophie»

Narrenschiff

«Realphilosophie»

Was war zuerst: Die Vernunft oder die Philosophie? Sehr wahrscheinlich nichts von beidem, denn mein Bauch studiert nicht gern.

Als ich mit 21 Jahren mein Philosophiestudium begann, war ich auf der Suche nach der Wahrheit (glaubte ich wenigstens) und entdeckte sie immer wieder (behauptete ich jedenfalls).

Nach Abschluss des Studiums war ich bereits vorsichtiger und antwortete auf die Frage nach meinem Beruf nicht mit: «Philosoph». Selbst die Antwort: «Ich habe Philosophie studiert», kam mir gewagt vor.

Inzwischen ist der Lack komplett ab. Ich vermute sogar, dass meine Studienwahl ein eigennütziger Bauchentscheid war. Mein philosophischer Alltag besteht nämlich häufig darin, dass ich 
im Nachhinein nach der Vernunft in meinem Tun suche. Ich habe aus dem Bauch heraus entschieden, habe mich von Lust und Unlust leiten lassen, bin ziellos rumgestolpert … Aber dann! Dann finde ich ganz viele Worte, weshalb das ein gezielter Einsatz meiner geballten Vernunft war.

Keine Lust mich sportlich zu betätigen? Ich philosophiere über die Befreiung vom Leistungsprinzip. – Aus Angst zehn Jahre lang nicht mehr geflogen? Ich klopfe mir als Umweltaktivist auf die Schulter. – Das Wochenende mit netflixen verbracht? Ich wollte ausschliesslich die Mechanismen seriellen Erzählens studieren. – Mich bei meinen Kindern allzulang nicht gemeldet?  Ich habe ganz bewusst Freiräume zugelassen. – Über einen billigen Witz gelacht? Die Metabene gehobener Kulturkritik rette mich!

Weil ich nicht gerne allein bin, fällt es mir leicht zu behaupten, nicht der einzige zu sein, für den Philosophie die Kunst der nachträglichen Rechtfertigung von Affekten ist. So wie ich, wursteln doch noch einige vor sich hin – und vertrauen darauf, dass ihnen im Nachhinein dann schon die guten Gründe einfallen. In der Politik. In der Wirtschaft. Und sogar in der Kirche.

Als vorletzten Akt meiner philosophischen Karriere stosse ich die Philosophen und Philosophinnen vom Podest. Ihre Begabung besteht zu einem grossen Teil doch einfach darin, sich besonders überzeugend rechtfertigen zu können. Marotten als Weisheit zu verkaufen, das ist die Alchemie der Philosophen. 

In höchster Vollendung erklären sie schliesslich ohne Wenn und Aber, weshalb sie gegen eine selbst aufgestellte Einsicht verstossen haben. Nicht etwa aus irgendwelchen niederen Gelüsten! Nein, sie mussten aus reiner Vernunft so handeln. Weil sie das für Normalsterbliche Undenkbare konsequent weitergedacht haben.

Und mein letzter Akt? – Natürlich weitermachen mit dem Philosophieren!

Text: Thomas Binotto