Schonungslos zuhören

Porträt

Schonungslos zuhören

Die Benediktinerin Philippa Rath ist eines der bekanntesten Gesichter der ­katholischen Kirche in Deutschland. Sie sieht den Krisen nicht nur offen ins Auge – sie arbeitet für Alternativen.

Schwester Philippa Rath weiss um die Herausforderungen des heutigen Klosterlebens: Kleiner werdende Gemeinschaften, oft monumentale, renovationsbedürftige Bauwerke, das Zusammenleben in einem Mehrgenerationenhaus, die Sorge um die älteren und kranken Gemeinschaftsmitglieder. Dazu kommen ein massiver Bedeutungsverlust der Kirche in der Gesellschaft, zahlreiche Kirchenaustritte, verkrustete und klerikale Machtstrukturen und der immense Reformstau – da kann man schon ans Resignieren denken. Nicht so Schwester Philippa. Wer die Publikationen der Ordensfrau liest oder ihre Redebeiträge in kirchlichen Gremien oder in Radiobeiträgen hört, spürt ihre tiefe Liebe zum benediktinischen Ordensleben, ihr ungebrochenes Vertrauen in die Reformierbarkeit der Kirche und ihr schier unerschöpfliches Hoffnungspotential. Was treibt die vielfach ausgezeichnete Ordensfrau und Kirchenreformerin an? Woraus schöpft sie?

Die heilige Hildegard als Inspiration

Die Theologin, Politikwissenschaftlerin und Historikerin ist 1990, damals 34 Jahre alt, in die Benediktinerinnenabtei St. Hildegard im hessischen Rheingau eingetreten – eine Lebensform, die ihr vielfältige Entwicklungsmöglichkeiten und Heimat bietet, wie sie sagt. Hoch über dem Rhein steht die Abtei wie eine mittelalterliche Burg – gebaut wurde sie allerdings erst vor gut 120 Jahren. Dennoch knüpft die Tradi-tion des Klosters direkt an die nahegelegenen Klöster Rupertsberg bei Bingen und Eibingen an, die beide von der heiligen Hildegard gegründet wurden. Hildegard war Äbtissin beider Abteien bis zu ihrem Tod 1179. Die Abtei St. Hildegard hat sich mit zahlreichen Editionen, Publikationen und Übersetzungsarbeiten seit über 100 Jahren in der Hildegardforschung einen Namen gemacht. Ausserdem haben die Nonnen viel dazu beigetragen, dass die heilige Hildegard heute nicht mehr nur als Kräuter- und Heilkundige bekannt ist, sondern als Theologin, Philosophin, Komponistin und Benediktinerin rezipiert wird. Das Erbe Hildegards von Bingen ist auch Schwester Philippa ein besonderes Anliegen: Sie hat gemeinsam mit anderen Schwestern der Abtei nicht nur auf die kanonische Heiligsprechung hingearbeitet, sondern auch auf die Ernennung Hildegards zur Kirchenlehrerin, beides erfolgte dann endlich 2012. Die Heiligsprechung Hildegards ist zweifelsohne ein besonderer Höhepunkt in der Geschichte der Abtei. 

Persönlicher Wendepunkt in Rom

Für Schwester Philippa persönlich markierte sie allerdings auch eine Wende: Für die Feierlichkeiten anlässlich der Erhebung zur Kirchenlehrerin war eine Delegation von Schwestern der Abtei nach Rom gereist. Irritierenderweise wurden sie dort, trotz ihrer Verdienste und ihrer unmittelbaren Verbundenheit mit der heiligen Hildegard, neben dem männlichen Klerus mehr als stiefmütterlich behandelt. Eine Erfahrung, die Schwester Philippa für das Thema Geschlechtergerechtigkeit in der (Männer-)Kirche sensibilisierte. 

Darauf folgten die Mitarbeit als Delegierte der deutschen Orden beim Reformprozess der deutschen katholischen Kirche, dem «Synodalen Weg». Ausserdem zwei Publikationen mit Zeugnissen rund um die Berufung von Frauen zum Priesterinnen- und Diakoninnenamt. Weiter die Wahl ins Zentralkomitee der deutschen Katholikinnen und Katholiken (ZdK) sowie ihre Wahl in den Synodalen Ausschuss, der die Arbeit des Synodalen Weges fortsetzt und die Einrichtung eines dauerhaften Synodalen Gremiums für die Kirche in Deutschland vorbereiten soll. 

Schwester Philippa betont, dass die heute aktuellen Fragen – wie der Einsatz für Geschlechtergerechtigkeit und das damit verbundene Anliegen des Zugangs aller Geschlechter zu allen kirchlichen Ämtern – nicht auf die mittelalterliche Hildegard projiziert werden dürften. Gleichzeitig, so Schwester Philippa, fänden sich bei Hildegard aber viele Hinweise auf ihre denkerische Eigenständigkeit und spirituelle Autonomie: Die Gelehrte unternahm Predigtreisen, wies den Kölner Klerus mit einem scharfen Brief in die Schranken, stand mit anderen geistlichen und weltlichen Grössen ihrer Zeit in Austausch auf Augenhöhe und verteidigte in ihren Klöstern praktizierte Formen und Ausgestaltungen des Gottesdienstes vehement gegen ihre Kritikerinnen und Kritiker. 

Spirituellen Missbrauch wahrnehmen

Diese Eigenständigkeit im Denken und die spirituelle Autonomie bieten für heute viele Anknüpfungspunkte. So befasst sich auch Schwester Philippas jüngste Publikation, die sie 2023 gemeinsam mit den Theologinnen Ute Leimgruber, Barbara Haslbeck und Regina Nagel herausgab, mit dem Thema spirituelle Autonomie: «Selbstverlust und Gottentfremdung. Spiritueller Missbrauch an Frauen in der katholischen Kirche». Auch in diesem Buch geht es darum, Tabuthemen ans Licht zu holen und Betroffenen eine Stimme zu geben: Frauen nämlich, die in Orden, geistlichen Gemeinschaften oder in der Seelsorge spirituellen Missbrauch erlebt haben. Es sind erschütternde Berichte, die deutlich machen, wie tief spiritueller Missbrauch in die eigene Identität und in die Gottesbeziehung einwirkt. Die Herausgeberinnen und andere Expertinnen untermauern die persönlichen Erfahrungsberichte der Betroffenen fachlich, um ein tieferes und differenzierteres Verständnis von spirituellem Missbrauch zu ermöglichen sowie von jenen Strukturen, die Missbrauch begünstigen. 

«Spirituellen Missbrauch» definieren die Autorinnen kurz als «Verletzung des spirituellen Selbstbestimmungsrechts eines Menschen» – und beziehen sich damit auf die Theologin und Autorin Doris Reisinger (Wagner), die sich mit ihrer Forschung in diesem Bereich einen Namen gemacht hat. Zu dieser Verletzung kann die Ausnutzung von Ämtern und Machtpositionen ebenso gehören wie ein manipulativer Gebrauch von Bibelstellen oder die Verwechslung der eigenen Stimme mit der Stimme Gottes. -Besonders wertvoll ist es, dass die Herausgeberinnen auch eine knappe Übersicht von zwölf -Mustern und Merkmalen von spirituellem Missbrauch liefern. Sie sollen helfen, spirituellen Missbrauch zu erkennen, um dann Betroffene gut unterstützen und Massnahmen der Prävention ergreifen zu können.

Spirituelle Autonomie als Ziel

Schwester Philippa benennt als wichtigen Schritt der Prävention die Stärkung der spirituellen Autonomie, des geistlichen Selbstbestimmungsrechtes jeder und jedes Einzelnen. Als Einzige der Herausgeberinnen des Buches ist sie selbst Ordensfrau. Viele der betroffenen Frauen haben sich im Vorfeld an sie mit der Bitte um Hilfe gewandt. Das daraus resultierende Buchprojekt war dann für sie auch persönlich eine grosse Herausforderung. Es bedeutete, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass auch die eigene Lebensform mit ihren Hierarchien, ihren Traditionen und Gebräuchen missbrauchsbegünstigend wirken kann. So schreibt sie: «Ich gestehe, dass mich die Mitarbeit an diesem Buch wie kaum je eine andere Aufgabe innerlich aufgewühlt und mitgenommen hat. Sie hat die Welt, in der ich lebe, durcheinandergebracht, hat Ideale zerschlagen und Fragen aufgeworfen.» Schwester Philippa nennt als Beispiel das Gehorsamsverständnis, das viele Jahrzehnte in den Klöstern gang und gäbe war. Es forderte absoluten Gehorsam ein. Heute ist es hingegen weithin üblich, «dialogischen Gehorsam» zu praktizieren, das heisst, gemeinsam auf den Willen Gottes zu hören. 

Es bleibt die traurige Erkenntnis, dass «vieles im Ordensleben unter bestimmten Bedingungen toxisch werden kann», vor allem dann, wenn narzisstische Persönlichkeiten ohne entsprechende Ausbildung in Führungs- und Leitungspositionen gelangen und sich selbst und ihren Willen mit dem Willen Gottes verwechseln. Umso wichtiger ist es für Schwester Philippa, nichts zu verdrängen: den Betroffenen schonungslos offen zuzuhören, hinzuschauen und sich die Augen öffnen lassen. 

Damit bleibt die Benediktinerin ihrem Professspruch treu, einer Art biblischem Leitwort, das jede Benediktinerin über ihr Ordensleben stellt: «Domine, ut videam: Herr, dass ich sehe». Der blinde Bartimäus, der Jesus um neue Sehkraft bittet, so erzählt es das Markusevangelium, bekommt Mut zugesprochen – und sieht.

Text: Geneva Moser, freie Mitarbeiterin