Sollten wir das Reden von der Sünde nicht endlich sein lassen?

Eine gute Frage

Sollten wir das Reden von der Sünde nicht endlich sein lassen?

Freitagmorgen in Morschach. Ich sitze mit meiner Kollegin am Frühstückstisch. Bevor wir starten, lesen wir das Evangelium vom Tag: die Heilung des Gelähmten, im 2. Kapitel bei Markus. 

Eine altvertraute Geschichte. Wir haben sie schon oft im Bibliodrama gespielt. Immer wieder stolpern wir an der gleichen Stelle:  «Als Jesus ihren Glauben sah, sagte er zu dem Gelähmten: ‹Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben!›» – Wieso spricht Jesus den Gelähmten auf seine Sünden an? Ist das nicht herzlos? Hat es der Gelähmte in seinem Leben nicht schon schwer genug? Muss Jesus ihm jetzt auch noch «moralisch» kommen?

Die Frage ist auch, ob Jesus es überhaupt moralisch meint, wenn er sagt: «Deine Sünden sind dir vergeben.» Was wäre, wenn Jesus mit diesen Worten vielmehr das zugrunde liegende Leid des Gelähmten anspricht? Aber: Was könnten Leid und Sünde miteinander zu tun haben?

Zunächst: Wenn wir eines von Jesus lernen können, ist es doch seine Leid-Sensibilität! Immer geht ihm das Schicksal der Menschen, das Schicksal von Kranken, Randständigen und Verachteten an die Nieren. Sie haben Vorrang. Von ihnen lässt er sich immer unterbrechen. Aber: Sünde sagen – und Leid meinen? 

Für uns in der Bibliodrama-Arbeit hat die sogenannte Sünde schon lange weniger eine moralische denn eine existenzielle Bedeutung. Existenziell gewendet bedeutet Sünde: Ich bleibe mir etwas schuldig. Etwas Wichtiges, was zu meinem Leben, zu meinem Glück, zu meinem Wachstum gehört.  

Im Blick auf den Gelähmten in der Bibel-Erzählung fragen wir uns also: Was bleibt sich der Gelähmte auf der Bahre schuldig? Was hat ihn so fest im Griff, dass er am Boden liegt? Bewegungslos, wie erstarrt? Welche lebens-verhindernden Glaubenssätze haben ihn in der Gewalt? Ist es Angst? Ist es Scham? Sind es unerfüllbare Erwartungen von aussen? Die Bibel lässt das offen. Wir sind gefragt!

Alles, was wir tun oder nicht tun, hat auch eine soziale Dimension. Es liegt auf der Hand: Was ich mir schuldig bleibe, bleibe ich auch anderen schuldig. Die Bewegungslosigkeit, das, was an mein Leben gebunden ist, hat Auswirkung auf die anderen. 

Und ein Drittes ist mir wichtig. Sündenvergebung bringt uns sofort in Verbindung mit Gottes Welt, mit Gottes grossem Ja zum Menschen: «Ich möchte dich auf Augenhöhe. Aufgerichtet. Frei von Fesseln. Frei von Bann-Botschaften.» Gezeichnet vom Leben sind wir, sicherlich. Wir sind keine unbeschriebenen Blätter. Und zugleich zu mehr Leben berufen: Steh auf, nimm deine Bahre und geh umher! 

Ich möchte das Sprechen von der Sünde und der Sündenvergebung zurückerobern. Ich möchte es nicht den Moralaposteln überlassen. Wir können das Sprechen von Vergebung und Sünde kultivieren. Wir sollten uns vielleicht öfters zusprechen: Nichts muss so bleiben wie es ist. Du hast mehr Möglichkeiten, als du ahnst. Höre auf dein Verlangen nach Leben!

Text: Claudia Mennen