Unübersehbar unsichtbar

Editorial

Unübersehbar unsichtbar

Denkmäler stehen lassen, auch wenn sie übersehen werden? Auch wenn sie nicht mehr verständlich erscheinen? Selbst wenn die Geehrten in Ungnade gefallen sind?

Ich habe ein kompliziertes Verhältnis zu Denkmälern. Einerseits war das Mittelalter auch deshalb mein Studienschwerpunkt, weil für mich Geschichte nie ganz abgeschlossen ist. Ich bin überzeugt: Fortschritt entsteht erst, wenn wir unsere Geschichte kennen. Und wenn wir herausfinden wollen, was im Dunkel lauert, müssen wir dieses Dunkel immer wieder ausleuchten. Das Eliminieren von Zeugnissen der Geschichte jedoch führt zur Geschichtsvergessenheit und damit zur Hypothek für die Zukunft.

Andererseits hatte ich nie das Bedürfnis, die Zeit zurückzudrehen. Eine Sache, die mich am Mittelalter ganz besonders fasziniert, ist die Selbstverständlichkeit, mit der damals alte Kirchen umgebaut oder gar abgerissen und neu gebaut wurden. Heute ist der Denkmalschutz – nicht nur in der Kirche – so allgegenwärtig, dass ich mir manchmal wie der Bewohner eines gigantischen Museums vorkomme.

Geschichte im Bewusstsein zu bewahren ist ein Balanceakt. Wir müssen gleichzeitig die Verbundenheit zu unserer Geschichte pflegen und uns dennoch nicht widerspruchslos an sie binden. Es gilt also zwei Extreme zu vermeiden: Eine Geschichtsvergessenheit, in der wir aus Fortschrittsgläubigkeit blindlings vorwärts hasten. Orientierungslos, weil wir nicht wissen, woher wir kommen. Und eine Geschichtsvergessenheit, in der wir rückwärtsgewandt stehen bleiben. Orientierungslos, weil wir nicht wissen, wohin wir gehen wollen.

Text: Thomas Binotto