Beten ganz alltäglich

Editorial

Beten ganz alltäglich

Die einen nennen es Gebet, die anderen Achtsamkeitsübung. Die einen besinnen sich, die anderen fahren runter. Egal, mit welchen Worten das Innehalten im Tageslauf beschrieben wird – ich bin kein Meister darin.

Nun habe ich jedoch eine Form gefunden, die zu meinem Rhythmus und meinem Temperament passt: Wenn möglich besuche ich jede Woche am Dienstag das Mittagsgebet in der Predigerkirche mitten im Niederdorf.

Ich schätze dessen schlichte Form, in der sich niemand in Szene setzt. Alles ist so unscheinbar. Spirituelle Sonderpunkte gibt es dafür nicht. Das Gebet dauert maximal zwanzig Minuten. Kurz genug, um keine Ausreden fürs Fernbleiben zu haben. Und lang genug, um mich zu einer bewussten Zäsur heraus-zufordern.

Wenn ich mich nicht sehr täusche, bin ich nicht allein mit diesem Bedürfnis nach solchen Haltepunkten, die sich gut in den Alltag integrieren lassen, die von mir keine spirituelle Leistung erwarten und auch keine spirituellen Wunderdinge versprechen. Momente, denen jede Teilnehmerin und jeder Teilnehmer genauso viel Verbindlichkeit und Gewicht verleihen kann, wie für ihn oder sie gerade drin liegen.

Es ist für mich sinnbildlich, dass die Türe zur Predigerkirche während des Mittagsgebets offen steht. Ich fühle mich frei zu kommen. Und ebenso frei zu gehen. Es gibt weder Zulassungsbedingungen noch Gruppendruck. Genau deshalb fühle ich mich wahrhaftig eingeladen. Ein Gast unter lauter Gästen.

Text: Thomas Binotto