Zwischen Zustimmung und  Widerspruch

Hintergrund

Zwischen Zustimmung und Widerspruch

Im Mai wird darüber abgestimmt, wie die Organspende gesetzlich geregelt werden soll. Es braucht eine Entscheidung: politisch und persönlich. Eine Geschichte mit sechs verschiedenen Stimmen zu einem Thema, das viele Fragen stellt.

Die Mutter steht mit 86 Jahren noch mitten im Leben. Plötzlich erleidet sie eine Hirnblutung. Auf der Intensivstation wird ihren Angehörigen die Frage gestellt: Dürfen Organe entnommen werden?

Die Frage nach der Spende von Organen mag für manche schnell beantwortet sein – mit einem klaren Ja oder mit einem klaren Nein – im Detail ist sie aber mit vielen Einzelfragen verbunden: medizinischen, ethischen, religiösen.

Diese Geschichte ist der Versuch, einen Zugang zur Organspende zu eröffnen und dabei verschiedenen Erfahrungen Raum zu geben. Ausgehend von den Erlebnissen einer Angehörigen und ihrer Familie kommen weitere wichtige Stimmen zu Wort, die sich von Berufs wegen daran beteiligen, über eine Organspende zu entscheiden: eine Ärztin, ein Vertreter der nationalen Dachorganisation Swisstransplant, ein Ethiker, ein Donor Care Manager, der Betroffene bei einer Entscheidung begleitet, eine Seelsorgerin. Sie alle hier sind allerdings nicht Teil ein und derselben Geschichte, bewusst nicht. Denn es geht nicht ausschliesslich um einen Fall. Es geht um Organspende: die uns alle betrifft, weil sie uns – oder einen unserer Angehörigen – eines Tages betreffen könnte.

Die Angehörige
Die Angehörige

Cornelia Zürcher ist Sekundarlehrerin und Heilpädagogin. Kurz vor ihrem 55 Geburtstag hat sie ihre 86-jährige Mutter durch eine Hirnblutung verloren. Von ihrer verstorbenen Mutter wurde die Leber transplantiert.

Universitätsspital Zürich. «Wir kamen nachts um 22.00 Uhr auf die Intensivstation, da lag sie an diese Maschinen angeschlossen», erinnert sich die Angehörige. Bald wussten sie und ihr Vater von den Ärzten, dass «eigentlich null Hoffnung» bestehe. Völlig überraschend. Ein knallharter Schnitt. «In dem Moment, als sie so da lag, hatte ich das Gefühl, sie sei eigentlich gar nicht mehr da, obwohl sie noch atmete.» 


Ohne Intensivstation geht es nicht

Eine Organspende ist allermeist nur dann möglich, wenn der Patient oder die Patientin auf einer Intensivstation behandelt wird. Warum? «Weil ich die Organe noch mit Sauerstoff versorgen muss und dazu die Patienten künstlich beatmet werden müssen», sagt die Ärztin. Tritt der Hirntod ein, atmet der Mensch nicht mehr und stirbt innerhalb von fünf bis zehn Minuten, weil das Herz zu schlagen aufhört. Die Atmung und der Kreislauf müssen also bereits vor dem Hirntod von aussen unterstützt und aufrechterhalten werden. Sonst geben auch die Organe ihre Funktion auf und sterben, bald nach dem Hirntod.

Die Ärztin
Die Ärztin

Martina Jäggi ist Fachärztin für Innere Medizin und Intensivmedizin. Sie ist Leitende Ärztin auf der Intensivstation am Kantonsspital Winterthur und begleitet Angehörige und Patienten bei der Frage nach Organentnahme.

Der umstrittene Hirntod

Den Hirntod als Tod des Menschen zu definieren, hat immer wieder für heftige Diskussionen gesorgt. Festgehalten ist diese Definition auch in Artikel 9 des Transplantationsgesetzes. Aber: Ist ein Mensch wirklich tot, wenn seine Hirnfunktionen aufgehört haben – sein Kreislauf und seine Atmung aber noch funktionieren, weil sie künstlich erhalten werden? «Wenn Angehörige dem Patienten dann die Hand halten, ist sie warm, so wie unsere, da ist nichts von einer Totenstarre vorhanden», sagt die Ärztin. Man müsse dann gut erklären, wie die Hirntod-Diagnostik zustande käme. Trotzdem bleiben Fragen offen. Die Seelsorgerin fragt: «Was ist das für ein Zustand? Bin ich dann mit meiner Identität schon in der anderen Welt, zur Hälfte oder ganz? Hält es mich noch eine Zeit fest, obwohl ich schon gegangen wäre?» Bei einem Menschen den Hirntod zu diagnostizieren, stellt Fragen: Was macht menschliches Leben aus? Wann ist es zu Ende? Gibt es so etwas wie eine Seele und wo könnte sie wohnen? 
 

Wo die Seele wohnt

Die Ärztin erzählt: «Ich habe Angehörige erlebt, die nicht wollten, dass das Herz transplantiert wird. Für manche scheint es der Wohnort der Seele zu sein.» Die Seelsorgerin sagt: «Die Seele könnte auch mit jeder Zelle, mit jedem Härchen verbunden sein, jenseits von kognitiven Fähigkeiten. Wir haben unseren Körper und 
einen seelisch-geistigen Leib.» Der Ethiker, selbst auch Theologe, fragt: «Von welchem Leben sprechen wir, wenn zentrale Funktionen nicht mehr gegeben sind, die auch theologisch gesehen zum Menschsein dazugehören?» Er hinterfragt die Vorstellung, dass wir «im vollen Sinn vom Leben eines Menschen» sprechen können, «solange ein Organismus noch irgendwie vital» ist. Die Einheit von Leib, Seele und Geist zeigt sich ihm in der biblischen Vorstellung, dass Gott den Menschen anspricht und beim Namen nennt: «In dieser leiblich-seelisch-geistigen Einheit wird personale Identität erst möglich.» Hirntod ist für den Ethiker eine radikale Zäsur, hinter die es kein Zurück gibt.

Die Seelsorgerin
Die Seelsorgerin

Sabine Zgraggen leitet die Dienststelle Spital- und Klinikseelsorge der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Sie ist Psychiatrieseelsorgerin und Pflegefachfrau für Intensivpflege.

Der Ethiker
Der Ethiker

Settimio Monteverde ist Co-Leiter Klinische Ethik am Universitätsspital Zürich und Dozent mit Schwerpunkt Ethik an der Fachhochschule Bern. Er ist Theologe, Pflegefachmann für Anästhesiepflege und Klinischer Ethiker.

Zurück auf der Intensivstation im Universitätsspital Zürich. In der Zwischenzeit ist es gegen 23.00 Uhr geworden. Die Tochter und der Vater stehen am Bett. Der Bruder möchte nicht kommen, weil er seine Mutter so in Erinnerung behalten will, wie er sie zwei Tage zuvor noch gesehen hat. Der Chefarzt kommt mit einer Frage. «Fast etwas verschämt», so erzählt die Tochter, hätte er gesagt, er müsse das nun fragen … ob sie sich denn vorstellen könnten … oder ob das in der Familie je ein Thema gewesen sei … es gäbe die Möglichkeit der Organspende? «Ich habe in meinem Inneren sofort gespürt, das wäre für mich richtig.»


Alter verhindert keine Spende

Zunächst war da aber die Überraschung: Mit 86 Jahren noch Organe spenden? «Ja», sagt die Ärztin – und das sei eines jener Details, das die wenigsten wüssten. Die Niere einer 90-Jährigen kann beispielsweise durchaus noch zehn oder zwanzig Jahre gute Dienste leisten für einen Empfänger, der womöglich an die 70 Jahre alt ist. So steht die Familie nun vor der Entscheidung: Dürfen der Mutter Organe entnommen werden oder nicht? Am nächsten Morgen kommt auch der Bruder zum Gespräch mit der Donor Care Managerin, die sie bei der Entscheidung begleitet. Die Tochter sagt: «Ich glaube, wenn es nur ein bisschen so gewesen wäre, dass ich das Gefühl gehabt hätte, dass sie noch lebt, dann hätte ich das nicht gekonnt.» Der Vater meint, eine Spende wäre im Sinne seiner Frau gewesen. Der Bruder möchte sich der Entscheidung des Vaters anschliessen. Die Familie entscheidet sich für eine Organspende.

Während die Mutter weiterhin künstlich beatmet wird, müssen nun drei Dinge geschehen: Die Angehörigen nehmen Abschied. Die Organe werden untersucht. Die Donor Care Managerin klärt anhand der Untersuchungen mit Swisstransplant ab, ob es jemanden auf der Warteliste gibt, zu dem eines der Organe passt. Swisstransplant ist eine nationale Stelle, die das Organspende-Register führt und die Warteliste der Empfängerinnen und Empfänger im Überblick behält. Zwei Tage dauern diese Abklärungen in diesem Fall. Die Angehörige erinnert sich: «Für meinen Bruder war es schwierig auszuhalten, dass unsere Mutter noch an den Maschinen hing.» Für sie selbst war es sehr emotional und «umgekehrt hat es mir geholfen, mit mehreren Personen nochmals hinzugehen, Abschied zu nehmen und immer wieder mit der Donor Care Managerin reden zu können».  Jede und jeder der Angehörigen hätte die Entscheidung jederzeit und rund um die Uhr widerrufen können.
 

Den eigenen Willen äussern

Die Mutter hatte sich zu Lebzeiten nicht geäussert, ob sie ihre Organe spenden möchte oder nicht. Die Angehörigen mussten entscheiden, was ihrer Mutter am ehesten entspricht – was also ihr mutmasslicher Wille ist. Allerdings: Selbst wenn sie ihren Willen niedergeschrieben hätte, wären die Angehörigen gefragt worden. Das ist gesetzlich geregelt und würde es auch bleiben, wenn neu dem Gesetzesentwurf zugestimmt würde, der eine erweiterte Widerspruchslösung (siehe Infobox) vorsieht. Angehörige haben das Recht, gefragt zu werden, sagt der Donor Care Manager: «Sie müssen aufgeklärt werden und mitbestimmen dürfen. Sie sind es ja, die mit dem Entscheid weiterleben.» Der Ethiker sagt: «Im Zweifelsfall ist man auf der Seite der Angehörigen, weil man sie in ihrem schweren Verlust nicht zusätzlich traumatisieren möchte.» Der Vertreter von Swisstransplant weiss: «Rund die Hälfte der Angehörigen kennen den Willen ihrer Familienmitglieder nicht. In der Betroffenheit lehnen momentan 60 Prozent der Angehörigen eine Organspende ab.» Von der Warteliste sterben im Schnitt zwei Personen pro Woche, weil sie kein entsprechendes Organ bekommen.

Der Donor Care Manager
Der Donor Care Manager

Thomas Hissen arbeitet bei der Donor Care Association DCA und als Pflegefachmann Intensivpflege am Kantonsspital Winterthur. Er begleitet Angehörige und Betroffene bei der Frage nach einer möglichen Organspende.

Der Vertreter von Swisstransplant
Der Vertreter von Swisstransplant

Franz Immer ist Direktor der Geschäftsstelle von Swisstransplant, die im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit die gesetzeskonforme Transplantation von Organen koordiniert. Er ist Herzchirurg.

Als festgestellt ist, dass sich Leber und Nieren transplantieren lassen, und als abgeklärt ist, dass es für die Leber auch einen passenden Empfänger gibt, ist die Zeit gekommen, in den Operationssaal zu gehen. Es wird in diesem Fall eine Organspende nach Kreislaufstillstand sein, bei der der Hirntod erst nach dem Kreislaufstillstand eintritt. 

Um 13.00 Uhr sollen die Angehörigen im Spital sein. Da kommt der Vater mit einer Idee: «Er wollte seinen Hochzeitskittel tragen», erzählt die Tochter. Vor dem Operationssaal empfängt sie die Donor Care Managerin. «Mein Vater zeigt ihr den Hochzeitskittel – dann hat sie ihn einfach umarmt», erinnert sich die Tochter. Dazu hat die Begleiterin gesagt, dass sie das eigentlich gar nicht darf, «aber sie hat es trotzdem gemacht». Die Tochter hat Tränen in den Augen. Dann kam der Moment, der für sie der schwierigste war: Wie wird es sein, wenn die Maschinen abgestellt werden? Angst kam auf.


Jemand ist da gewesen

Die Angehörigen dürfen in diesem Fall in den Operationssaal mitgehen. «Grell» hatte sich die Tochter den Ort vorgestellt, an dem ihre Mutter dann sterben wird. «Es war dann eher abgedunkelt, nur ein kleines Licht und eine elektrische Kerze, es geschah einfach friedlich.» Eine Organspende sei auch keine «normale OP», sagt der Donor Care Manager, der auch Intensivpfleger ist. «Ich versuche, im Auge zu behalten, dass das eine grosse Sache ist, dass der Patient seine Organe gibt. Das ist aussergewöhnlich und es gehört für mich dazu, das zu respektieren und zu würdigen.» 

Fragt man die Angehörige, was für sie das Wichtigste war, dann sagt sie: «Die Menschlichkeit.» Zwei Ärzte waren mit ihnen im OP, nach dem Tod der Mutter waren zwei Personen vom Care-Team für sie da: «Das Wissen, dass sie sich Zeit nahmen und wir bis zum Abend mit ihnen hätten sein können, das war mitten in der Trauer eine schöne Erfahrung.» Am Abend rief sie einer der Ärzte an: Die Leber ihrer Mutter war erfolgreich transplantiert worden. 

Jetzt greift die Trauer. Die Mutter ist verstorben. Und: «Irgendwie ist es doch ein Trost, zu wissen, dass dieser letzte Schritt in ihrem Sinn gewesen ist.» Was ihr diese Gewissheit gibt? «Mein Gefühl», und auch, dass die weitere Familie, enge Bekannte und Freundinnen ihren Eindruck bestätigten. Trost erleben auch andere, die an einer Organspende beteiligt sind. Der Donor Care Manager sagt: «Ich ziehe Kraft daraus, dass ich nach so einer schwierigen Situation weiss, dass wir noch gemacht haben, was der Patient wollte oder vermutlich gewollt hätte.» Die Ärztin: «Es gibt mir Energie, wenn ich vom Empfänger höre, dass es ihm jetzt besser geht, und wenn ich das Gefühl habe, Angehörige von Spendern gut durch diese Phase begleitet zu haben.» Das zu tun, was dem Willen des Betroffenen am ehesten entspricht – angesichts einer Medizin, die Organe transplantieren kann. 

Der Ethiker ist überzeugt: «Ich glaube, dass wir eine ethische Pflicht haben, uns über eine Organspende Gedanken zu machen.» Der Vertreter von Swisstransplant meint dazu: «Wichtig ist die Auseinandersetzung, in sich zu gehen und zu einer Entscheidung zu kommen. Ein Richtig und Falsch gibt es nicht.»

Die Angehörigen haben drei Monate nach der Transplantation nochmals einen Anruf ihrer Donor Care Managerin bekommen, und ein Jahr später wird sie wieder anrufen: um miteinander zu reden und auch um anonymisiert zu erfahren, wie es dem Empfänger des Organs gehe. Angehörige von Spenderinnen und Spendern sind auch zu Angehörigentreffs eingeladen. «Mein Vater hat sich dafür entschieden, offen über die Organspende seiner verstorbenen Frau zu reden», sagt die Tochter. «Ich merke, dass das in meinem Umfeld etwas auslöst.»

Warteliste und Transplantationen
Warteliste und Transplantationen

Diese Zahlen beziehen sich aufs Jahr 2021. Quelle: Swisstransplant


Leserbrief

Durch den Beitrag merkt man einmal mehr, dass sich die katholische Kirche nicht wirklich durchringen kann, eine klare Position einzunehmen. Etwas deutlicher wäre möglich: hinsichtlich der uneingeschränkten Freiwilligkeit, die eine Organspende haben muss. Die Widerspruchslösung schränkt diese Freiwilligkeit ein. Schade. Auch wird die Diskussion um den Hirntod nicht erwähnt: Ist der Mensch tot, wenn trotz Hirntod noch ein grosser Teil des Körpers funktioniert? Es sind nicht Hartherzigkeit oder Mangel an Nächstenliebe; es ist das Verständnis von Leben, Sterben und Tod dahinter, warum viele Menschen der Widerspruchslösung – oder überhaupt einer Organentnahme – nicht zustimmen können. Und das ist es, wofür sich die katholische Kirche in ihrem Namen etwas mehr engagieren dürfte. Organspende ja, aber die Widerspruchslösung ist klar der falsche Weg, genügend Organe zu bekommen.
Idda Kern, Niederbüren 

Text: Veronika Jehle