Jesus übertreibt masslos

Gleichnisse aktuell

Jesus übertreibt masslos

Als ehemaliger Bäcker macht mich dieses Gleichnis stutzig. Aber als Theologe veranschaulicht es mir zugleich bestens, was Jesus mit dem Himmelreich meint. 

Er redet von drei Sea Mehl. Das sind zirka 40 Kilogramm, also keine haushaltsübliche Menge. Für den daraus entstehenden Teig – zirka 70 Kilogramm – benötige ich einen grossen Bottich. Ich frage mich, ob man so etwas Grosses überhaupt mit der Hand kneten kann? In der Backstube hatten wir für solche Mengen eine Knetmaschine, die Frau in der Bibel hatte sicher keine. Für damalige Zeiten übertreibt Jesus also masslos.

Genauso verhält es sich mit dem Himmelreich: Es ist masslos! Und es ist verborgen – mitten in diesem Teig, als kleiner und unscheinbarer Teil des Ganzen. Aber es gibt dem Brot erst die richtige Gehrung und den Geschmack. Das will auch die Botschaft vom Reich Gottes.

Das Ziel seines und unseres Wirkens ist nicht dann erreicht, wenn nahezu 100 Prozent aller Getauften ihre Kirchensteuern bezahlen und in die Kirchen kommen. Vielmehr intendiert Jesus mit diesem Gleichnis, dass seine Jüngerinnen und Jünger auch als kleiner und unscheinbarer Teil dieser Gesellschaft den richtigen Geschmack beigeben.

Das geschieht viel weniger durch fromme Worte und das Rezitieren von Bibelversen als durch unsere Taten.  Nach dem ersten Petrusbrief könnte man auch sagen: «Lebe so, dass die Menschen fragen, welche Hoffnung dich erfüllt.» Erkennbar sind solche «Sauerteigmenschen» an ihrem verantwortlichen Handeln der Welt und den Mitmenschen gegenüber, an ihrer Solidarität, an ihrer unversiegbaren Hoffnung, an ihrem Verzeihen- und Neuanfangen-Können und vielem mehr.

Solche Menschen finden sich auf dieser Erde zuhauf. Menschen aller Religionen, auch Nichtreligiöse, leisten Widerstand gegen politische und kirchliche Egomanie, gegen Umweltzerstörung, Ausbeutung, Diskriminierung, Ungerechtigkeiten und Eskalationen. Sie können all dies nicht verhindern. Aber sie können zum Nachdenken und manchmal auch zum Umdenken beitragen – wie die friedlichen Demonstrationen in der DDR oder jetzt in Belarus, die Wahl in den USA, die Klimabewegungen, der Aufstand der Frauen in der katholischen Kirche oder die Proteste gegen die Absetzung von Martin Kopp zeigen.

Das war und ist es, was Jesus sagen will mit diesem Gleichnis: Jeder Mensch kann und soll dafür Sorge tragen, dass Himmel und Erde sich berühren, dass alle Menschen satt werden vom Brot des Lebens, das herzhaft und geschmackvoll wird durch viele «Sauerteigmenschen».

Text: Rudolf Vögele, Leiter Ressort Pastoral im Generalvikariat Zürich-Glarus